Biographie

Alfred Schnittke * 1934 † 1998

Der Meister der Polystilistik
Alfred Schnittke, einer der größten Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, prägte und inspirierte vier Jahrzehnte lang mit seinen Klängen und Konzepten die europäische Musiklandschaft und erschuf zahlreiche Werke für Orchester, Ballett und Film. Schnittke war Professor an der Hamburger Musikhochschule sowie Ehrenmitglied der Royal Academy of Music und gilt als Erschaffer der Polystilistik. Er starb 1998 in Hamburg.

Die Anfänge
Alfred Garievich Schnittke wurde am 24. November 1934 in Engels, der Hauptstadt der damaligen Wolgadeutschen Republik, als Sohn des aus Frankfurt am Main stammenden Journalisten Harry Schnittke und der Deutschlehrerin Maria Vogel, geboren.
Seine musikalische Ausbildung begann 1946 in Wien, wo sein Vater für zwei Jahre bei der deutschen Zeitung der sowjetischen Besatzungsmacht arbeitete. Er erhielt Klarvierunterricht und unternahm bereits in diesen jungen Jahren erste Kompositionsversuche. In Moskau absolvierte er dann eine Ausbildung als Chordirigent. Ab 1953 studierte er am Moskauer Konservatorium Komposition und Kontrapunkte (bei Jewgeni Golubew) sowie Instrumentation (bei Nikolai Rakow). Maßgeblich wurde Schnittkes Schaffen in dieser Zeit von dem in Moskau lebenden Webern-Schüler Philipp Herschkowitsch inspiriert.
Mitte der fünfziger Jahre begann Schnittkes erste fruchtbare Schaffensperiode, die zwar deutlich von Schostakowitsch beeinflusst war, jedoch bereits die Handschrift des späteren Meisters selbst trug. 1958 bis 1961 schrieb er als Diplomarbeit das Oratorium „Nagasaki“, das wegen seiner expressionistischen und modernistischen Haltung scharf kritisiert wurde.

Das musikalische Werk
Nach seinem Studium war er, für ein geringes Stundenhonorar, als Lehrer für Instrumentation am Moskauer Konservatorium tätig. Seit dieser Zeit veröffentlichte er zahlreiche musiktheoretische Arbeiten und wurde auch erstmals als Filmkomponist tätig; damals vorrangig, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Nach seiner Lehrtätigkeit am Konservatorium begann für Schnittke die freie Schaffensphase, die in einem Land kultureller Unfreiheit starken Belastungen ausgesetzt war.
Auf der Suche nach seiner kompositorischen Identität schrieb Schnittke zunächst viel szenische Musik (Quelle: www.my-orthodox-world.de ). Schon damals verstand er sich als Gratwanderer zwischen Ost und West und ließ sowohl die russischen Leitfiguren wie Strawinsky, Prokofiew und Schostakowitsch, als auch die westlichen Komponisten wie Mozart, Mahler, Webern und Zimmermann, in gleichstarker Beziehung in seine Werke einfließen.

Wegweisend war 1968 die zweite Violinsonate „quasi una sonata“ mit der er „den bereits überfüllten Zug verlassen“ und von der Zwölftonigkeit zur Polystilistik fand – einem Verfahren, bei dem heterogene Materialien und Stile, Tonales und Atonales, Vergangenes und Gegenwärtiges, Vertrautes und Verfremdetes einander durchdringen und in einen neuen Zusammenhang gebracht werden. Dies ermöglichte, durch bewusste Anspielung der Stilunterschiede, eine fast schon verloren geglaubte musikalische Räumlichkeit neu zu entwickeln und wiederum zu einer dynamischen Formgestaltung zu kommen, die im Laufe der stürmischen Avantgarde-Periode unmöglich geworden war. Mit dieser autonomen, musikalischen Ausdrucksweise revolutionierte Schnittke in den 60er Jahren die Musikwelt und setzte neue Maßstäbe.
Alfred Schnittke selbst sagte über seine 1. polystilistische Komposition, sie sei ein Bericht über die Unmöglichkeit der Sonate in Form einer Sonate.

Schnittkes 1. Sinfonie (1972 – 74) definiert einen weiteren Meilenstein in seinem kompositorischen Schaffen. Das von ihm selbst als „Un-Sinfonie“ betitelte Werk behandelt die Suche nach einer zeitgemäßen sinfonischen Form des 20. Jahrhunderts. Traditionelle Formen und Stile, wie amerikanische Marschmusik oder Jazz, finden sich in Schnittkes sinfonischer Apokalypse ebenso wieder, wie gestische und theatralische Elemente.
Anfangs will er die Benennung „Sinfonie“ kaum als etwas Ernsthaftes, aber auch nicht als eine Art Spott verstanden wissen. Und so stellt er in einem Brief an die Musikwissenschaftlerin Hannelore Gerlach 1972 fest: „Es ist ein Versuch, die inzwischen von der Musikentwicklung zerstörte Sinfonie aus Resten und Brocken wieder aufzubauen, dabei die fehlenden Flächen mit neuen ersetzend… Außer vielen klassischen Zitaten (Ludwig van Beethoven, Chopin, Strauß, Grieg, Tschaikowsky, Dies irae, Gregorianische Choräle, Haydn) stammt das Material von mir (auch das banale – es sind meist Fragmente aus Film- und Theatermusik von mir)… Ich bin gegen jeden Versuch, dieses Stück rein programmatisch zu deuten, denn ich hatte kein Programm im Sinn. Ich wollte nur ehrlich mir selbst gegenüber bleiben – als Mensch (indem ich mir die Freiheit nahm, die Spannung unserer Zeit ohne falsche Lösungen zu schildern) und als Musiker (um alle Schichten meines musikalischen Bewusstseins ohne Sorge um den Stil leben zu lassen)“. Seinem deutschen Verleger sagte er: „In dieses Stück habe ich alles hereingeschrieben, was ich mal komponieren werde“.
Im Westen als „gewaltiges Stück von ungeheuerlicher Dimension“ wahrgenommen, wird die Uraufführung in Moskau verboten. Der russische Dirigent Gennadi Roshdestvenski wagte jedoch eine sensationelle Aufführung in der Provinzstadt Gorki.

Erste Aufmerksamkeit im „Westen“ erregten Schnittkes Werke schon 1966 bei den Tagen für Neue Musik in Donaueschingen. Sie fanden seitdem ihren Weg in die Programme, nicht nur aller wichtigen Festivals für neue Musik, sondern etablierten sich ganz allgemein als „Klassiker“ im internationalen Musikleben. Seit den 90ziger Jahren widmete man Schnittke Festivals von internationaler Bedeutung und präsentierte seine Werke in groß angelegten Überblicken, z.B. in Hamburg, Stockholm, Amsterdam, London, Wien und Moskau.
Wenn auch das restriktive Sowjetische Regime dieser Entwicklung energisch entgegen wirkte, so fanden mutige Freunde Schnittkes oftmals kreative Wege, die bürokratischen Hürden zu überwinden. Als beispielsweise 1972 alle Anträge auf Teilnahme Schnittkes an einer Konzertreise des Litauischen Kammerorchesters mit Gidon Kremer, Tatjana Grindenko und unter der Leitung von Saulus Sondetzkis in die BRD und Österreich immer wieder abgelehnt wurden, führte ihn kurzerhand Starviolinist Gideon Kremer als Pianist des Orchesters und so konnte Schnittke seine erste Reise in den Westen antreten. Innerhalb dieser Konzertreise kam es zur ersten Aufführung seines 1. Concerto grosso in Österreich und der Bundesrepublik Deutschland, die zur Initialzündung für die Bekanntheit von Alfred Schnittke im Westen wurde.

Schnittkes Beziehung zur mitteleuropäischen Herkunft seiner Eltern drückt sich besonders deutlich in seiner 3. Sinfonie aus. Sie wurde von Kurt Masur für das Leipziger Gewandhausorchester in Auftrag gegeben. Schnittke sagte über sie: „Sie ist eine deutsche Sinfonie … die Musik weckt ständig Erinnerungen an die Entwicklungsgeschichte der deutschen Musik von Bach bis heute. Es kommen Namen von mehr als zwanzig Komponisten vor. Aus den Buchstaben ihrer Namen gewinne ich Zwölftonleitern…Im dritten Satz erzähle ich die Geschichte der deutschen Musik in ihren verschiedenen Epochen und Perioden vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Jeden historischen Abschnitt…“ Sie wurde 1981 – trotz sowjetischer Proteste – unter Leitung von Kurt Masur zur Uraufführung gebracht.
Zu Beginn der 90er Jahre relativierte sich Schnittkes polystilistischer Ansatz. Sein in Hamburg entstandenes Spätwerk trägt herbere, quasi abstraktere Züge, seine Partituren wurden karger und ausgedünnter. Dieses Spätwerk ist bisher wenig erschlossen. „… in seiner Bedeutung für die Zukunft (ist es) erst noch zu entdecken…“ (Heinz-Albert Heindrichs, 2003)

Schnittke und Hamburg
1989 siedelt Schnittke nach Berlin über, wo er als Fellow des Wissenschaftskollegs und als Composer-in-Residence des Berliner Philharmonischen Orchesters arbeitete.
1990 zog Alfred Schnittke mit seiner Frau Irina und seinem Sohn Andrej nach Hamburg und nahm die deutsche Staatsangehörigkeit an. In der deutschen Hansestadt, seit langem bereits Anziehungspunkt für russische Musiker (Suslin, Gubaidulina, Koroljov, Lubotsky u.v.a), und bei langjährigen Freunden und Weggefährten, darunter vor allem auch bei seinen Verlegern Hans Sikorski und Jürgen Köchel, fand er eine neue Heimat für sein musikalisches Schaffen. Er leitete von 1989 bis 1994 eine Kompositionsklasse an der Hamburger Musikhochschule. Die Fürsprache seines Freundes, des Geigers Mark Lubotsky, war für Schnittkes Berufung in diese Position ausschlaggebend.

Sein Wirken befruchtete die Hamburger sowie die deutsche Kulturwelt: so kommt bereits 1989 das Ballett „Peer Gynt“ als Auftragswerk der Hamburgischen Staatsoper für John Neumeier zur Uraufführung. Legendär ist bis heute die Szenerie, in der Alfred Schnittke – bereits von einem Schlaganfall gezeichnet – im Keller des Sikorski-Verlages für John Neumeier „Peer Gynt“ komplett auf dem Klavier vorspielt, damit sich der Choreograph einen Eindruck des Werkes machen kann.

In seiner Zeit in Hamburg komponierte Schnittke 26 seiner wichtigsten Werke. Eines davon „Leben mit einem Idioten“. Wiktor Jerofejew, der das Libretto schrieb, saß 1990 in Schnittkes Küche in Hamburg und wollte ihn überzeugen, die Musik für seine Oper zu schreiben. Obwohl Schnittke durchaus Sinn für Groteskes hatte, weigerte er sich zunächst. Ausgerechnet Schnittke, der nach Schostakowitsch erfolgreichste und vielleicht folgenreichste Tonsetzer der einstigen UdSSR, ein kapriziöser Phantast, schreckte vor diesem Stoff zurück.
Für Schnittke war das zwar ein „Traumstoff“, „wie fürs Musiktheater gemacht“ (Quelle: Der Spiegel, 17/1992), nur komponieren wollte er ihn nicht. Er scheute sich vor der Gattung Oper. Derselbe Musiker, der von der amerikanischen Kultur-Sommerfrische Tanglewood bis zum mongolischen Ulan Bator international gefeiert und überall, laut Welt, „im Schwall öffentlicher Zuwendung gebadet“ wurde, zauderte zunächst: seit seiner Ausbildung als Chorleiter habe er zu großen Respekt vor Stimmen und Probleme mit Vokalwerken. Schnittke selbst machte sich auf die Suche nach einem anderen Komponisten für das Werk und erst nachdem er keinen anderen fand, setzte er sich kurzerhand an seinen Schreibtisch mit Blick auf die Alster und komponierte. Unterbrochen wurde diese Schaffensphase durch seinen 2. Schlaganfall. Seine erste Oper wurde 1992 in Amsterdam uraufgeführt und zu einem großen Erfolg.

Ebenfalls 1992 wird Alfred Schnittke mit dem Bach-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg ausgezeichnet. In den neunziger Jahren gehörte Schnittke zu den meist aufgeführtesten Komponisten seiner Zeit.
Seit 2001 wird Schnittke hierzulande auch zunehmend als Komponist für Filmmusiken wahrgenommen. Dies ist in erheblichem Maße der Verdienst des Dirigenten des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters Berlin, Frank Strobel. 2004 untermalte z.B. Volker Schlöndorff seinen ausgezeichneten Film „Der neunte Tag“ mit Musik Schnittkes.

Schnittke war Ehrenmitglied der Royal Academy of Music sowie der Freien Akademie der Künste in Hamburg, Mitglied der Königlichen Schwedischen Akademie für Musik in Stockholm, der Akademie der Künste in Berlin, der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München und der American Academy of Arts and Letters New York.

Bereits 1985 erlitt Schnittke einen Schlaganfall, infolgedessen er kurzzeitig klinisch tot war. Dieser setzte in ihm nochmals ungeheure Schaffenskräfte frei: gut die Hälfte seiner wichtigsten Werke entstand in den 13 ihm noch verbleibenden Jahren, in denen ihn noch drei weitere Schlaganfälle immer wieder an der Arbeit hinderten. So schrieb er z.B. 1997 – schon halbseitig gelähmt – die Partitur seiner 9. Sinfonie als Rechtshänder mit der linken Hand. Es gelang ihm, dieses große Werk unter unvorstellbaren Mühen fertigzustellen. Um es aber aufführbar zu machen, bedurfte es der vierjährigen hingebungsvollen Dechiffrierungs- und Transcribtionsarbeit seines jüngeren Komponistenkollegen Alexander Raskatovs.
Alfred Schnittke verstarb im Alter von 64 Jahren am 3. August 1998 in Hamburg. Er wurde am 10. August mit einem Staatsbegräbnis auf dem Moskauer Nowodewitschi-Friedhof beigesetzt. Seine Frau Irina lebt noch heute in der Hansestadt. Zum Gedenken an den großen, zeitgenössischen Komponisten wurde 2009 die Alfred Schnittke Akademie International in Hamburg-Altona gegründet, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, junge Künstler musikalisch aus- und weiterzubilden und so den visionären Geist Schnittkes lebendig zu halten.
Nur wenigen Komponisten war und ist es gegeben, bereits zu Lebzeiten nahezu in allen Teilen der Welt begeisterte Akzeptanz, sowohl bei den Kritikern, als auch beim Publikum, zu finden. Ebenso nahezu einmalig sind die bedeutenden Ehrungen, Auszeichnungen und Preise, mit denen Alfred Schnittke bereits zu Lebzeiten ausgezeichnet wurde.

Mitgliedschaften / Auszeichnungen

  • 1980 Gastprofessur an der Wiener Hochschule für Musik und Darstellende Kunst
  • 1981 Mitgliedschaft an der Akademie der Künste in (West-) Berlin
  • 1986 Staatspreis der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik
  • 1986 Mitgliedschaft der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München
  • 1987 Mitgliedschaft an der Königlichen Schwedischen Akademie für Musik in Stockholm
  • 1989 Russischer Filmpreis „Nika“
  • 1989 Ehrenmitgliedschaft an der Freien Akademie der Künste Hamburg
  • 1989 Professur an der Hamburger Musikhochschule
  • 1991 Österreichischer Staatspreis
  • 1992 Praemium Imperiale (Nobelpreis der Künste), Tokio
  • 1992 Bach-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg
  • 1993 Russischer Kulturpreis
  • 1993 Ehrenmitgliedschaft an der Royal Academy of Music in London
  • 1994 Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern (BRD)
  • 1994 Österreichisches Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst
  • 1994 Ehrenplakette der Freien Akademie der Künste Hamburg
  • 1995 Staatspreis der Russischen Föderation
  • 2005 Preis der deutschen Schallplattenkritik
  • 2006 Preis der deutschen Schallplattenkritik

Mitgliedschaft in der American Academy of Arts and Letters in New York


Lit.:

  • Jürgen Köchel: Schnittke, Alfred. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 23, Duncker & Humblot, Berlin 2007, S. 328–330.
  • Alla Bogdanova (Hrsg.): Al’fredu Schnittke posvjaschtschajetsja (=Alfred Schnittke gewidmet), 2 Bde., Moskau 1999 und 2001. (russisch)
  • Alla Bogdanova und Elene Dolinskaja: Al’fredu Schnittke posvjaschtschajetsja (=Alfred Schnittke gewidmet), 3 Bde., Moskau 2003-2006. (russisch)
  • Alexander Ivashkin: A Schnittke Reader, Bloomington und Indianapolis 2002. (englisch)
  • Alexander Ivashkin: Alfred Schnittke, London 1996. (englisch)
  • Jürgen Köchel (Hrsg.): Alfred Schnittke zum 60. Geburtstag. Eine Festschrift, Hamburg 1994. ISBN 3-920880-53-6
  • Maria Kostakeva: Im Strom der Zeiten und der Welten. Das Spätwerk von Alfred Schnittke, Saarbrücken 2005. ISBN 3-89727-279-2
  • Alfred Schnittke: Über das Leben und die Musik. Gespräche mit Alexander Iwaschkin, München und Düsseldorf 1998. ISBN 3-430-18033-3